Kunstwerk des Monats Oktober
06. Oktober 2024
Rembrandts Radierung von 1633 zum Gleichnis vom barmherzigen Samariter
Vorgestellt von Dr. Thomas Noll
Auf die Frage eines Schriftgelehrten, wer sein Nächster sei, erzählt Jesus das Gleichnis vom barmherzigen Samariter, das, als Sondergut, das Evangelium nach Lukas überliefert (Lk 10, 30-35). Der besondere Stellenwert dieser Parabel beruhte spätestens seit dem 3. Jahrhundert auf deren allegorischer Auslegung, die hier die gesamte Heilsgeschichte zusammengefasst sah. Denn der unter die Räuber gefallene Mann meinte danach Adam, der vom Teufel seiner Unschuld und Unsterblichkeit beraubt wird, der Priester und der Levit, die an dem Verletzten vorübergehen, standen für das Gesetz und die Propheten, die die Sündhaftigkeit des Menschen nicht heilen können, in dem Samariter war Christus zu erkennen, der durch sein Erlösungswerk dem hilflosen Menschen Rettung bringt und ihn in den Gnadenstand zurückversetzt, die Herberge und der Wirt schließlich verwiesen auf die Kirche und ihre Amtsträger, die sich des von Christus erlösten Sünders annehmen. Bis zum 16. Jahrhundert, das heißt bis zur Reformation, stand dieses allegorische Verständnis der Parabel außer Zweifel. Doch wenn nicht bei Johannes Calvin, so doch bei Martin Luther blieb es auch darüber hinaus, wiewohl in modifizierter Form, in Geltung und konnte sogar noch im 20. Jahrhundert, bei Karl Barth, aufscheinen.
Bildliche Darstellungen des Gleichnisses entstanden seit dem 6. Jahrhundert, zunächst in Illustrationsfolgen mit mehreren Szenen (wobei anstelle des Samariters geradezu Christus auftreten kann). Vor allem seit dem 16. Jahrhundert finden sich dann vielfach auch – weiterhin neben mehrteiligen Bildfolgen namentlich in der Graphik (z.B. von Heinrich Aldegrever und Maerten van Heemskerck) – Einzelszenen, die in der Regel die Sorge des Samariters um den Verletzten in den Mittelpunkt stellen. Sehr unterschiedlich können dabei angesichts einer sich verzweigenden Exegese der Parabel diese Darstellungen inhaltlich gemeint sein.
Als Einzelszene eher ungewöhnlich erscheint Rembrandts Radierung von 1633 und ein, zwar spiegelbildlich, ganz entsprechendes Gemälde von 1630 in der Wallace Collection in London, die als einzige Verbildlichungen des Themas – ihrerseits nicht unwidersprochen – heute noch von der Forschung als Werke Rembrandts akzeptiert werden; über ein halbes Dutzend Zeichnungen, die das Gleichnis behandeln und Mitte der 1950er Jahre für authentische Arbeiten galten, sind inzwischen aus Rembrandts Oeuvre ausgeschieden worden. In dem Gemälde und der Radierung sieht man jeweils die Ankunft bei der Herberge und den Samariter, der, anders als die Geschichte berichtet, schon gleich den Wirt für die Versorgung und Pflege des Verwundeten bezahlt. Vor allem aber irritiert in der Radierung das prominent im Vordergrund platzierte und anstößig zu nennende Motiv eines defäkierenden Hundes (der in dem Gemälde von 1630 noch fehlt). Die Graphik bietet damit jedoch – fern davon, das biblische Gleichnis nur durch ein Genremotiv zu bereichern oder es zu profanieren – ein aufschlussreiches und kennzeichnendes Beispiel für Rembrandts Erzählstil. Und es zeigt seine Auffassung eines geistlichen Geschehens, dessen Bedeutung nicht ohne weiteres vor Augen liegt, sondern von den Beteiligten – und das heißt bei der bildlichen Darstellung: vom Betrachter – hinter der sichtbaren (Alltags-)Wirklichkeit ‚im Geist‘ erkannt werden will.
Thomas Noll